Jede Sprachverwüstung macht es Autoritäten leichter, Gehorsam zu erreichen. Und wo ein Begriff gleichzeitig für beliebig festlegbare Inhalte verwendet wird, entsteht eine günstige Basis für Irrationalität. Was heißt Identität?
Hinweise aus gegebenem Anlass.
Von Elisabeth Schrattenholzer
Erschienen in: „Die Presse“, 29.04.2017
Dieser Tage wird der Begriff Identität mit einer solchen Fülle unterschiedlicher Inhalte belegt, dass ich mir die Frage des Herrn Schlicht aus Nestroys Posse „Mein Freund“ stelle: „Ja hat denn die Sprach da kein anderes Wort.“ Doch. Die Sprache hat andere Wörter. Und wer unterschiedliche Inhalte meint, sollte unterscheidbare Begriffe verwenden. Alles andere ist – ungewollt oder absichtlich – Vorschubleistung für das Denkchaos, das es den Diktaturen so leicht macht, ihre Ziele zu erreichen.
Was bedeutet „W“? Wein? Oder Wüstensand? Sind die beiden Begriffe identisch, bloß weil sie mit „W“ beginnen?
Was ist Identität? Ist es ein beliebig ausdeutbares Wort und damit ein potenzieller Dolchstoß für demokratische Rechte? Oder ist Identität etwas Eindeutiges?
„Identitär kommt von Identität“, deklariert die Identitäre Bewegung Österreich auf ihrer Website und fügt unter anderem hinzu: „Alle wichtigen Fragen des 21. Jahrhunderts münden in die Frage nach der Identität.“ Sogar der Krieg in Syrien wird ohne Angabe von Gründen als ein Ausdruck der Frage nach der Identität klassifiziert.
Wer „ein richtiger Diktator ist, der bastelt schon mal am Wortschatz der Nation herum“, kommentierte der Journalist Arnold Schnötzinger 2012 den Film „Der Diktator“. Besagter Diktator befiehlt, dass in seinem Land die Begriffe „positiv“ und „negativ“ durch das Wort „aladeen“ ersetzt werden müssen. Dann gilt für sämtliche Kranke: „Sie sind HIV-aladeen“ – ein Befund, der jeden Menschen nahezu in die Hilflosigkeit eines Kleinkindes versetzt.
Ähnlich verwirrend sind manche Aussagen des US-Präsidenten Donald Trump. Sie halten die betroffenen Menschen in lähmender Ungewissheit über ihre Zukunft. George Orwells dystopischer Roman „1984“ wurde nicht von ungefähr dieser Tage zu einem der meistgekauften Bücher in den USA. Darin muss ein „Ministerium für Wahrheit“ die dortige Geschichte ständig so verdrehen, dass sie zur jeweils neuen Parteilinie passt.
Auch die Nationalsozialisten sahen von Anfang an die Notwendigkeit, Sprache für ihre Zwecke zu deformieren. Der Romanist und Philologe Victor Klemperer bezeugt das eindrucksvoll in seinen Werken. Bereits 1933 wurde das Propagandaministerium eingerichtet. Es bot die Mittel, flächendeckend das sprachliche und emotionale Überblenden der Wirklichkeit zu etablieren. Der militärische Angriff auf das mehr als 2000 Kilometer von Berlin entfernte Stalingrad konnte in der Folge als Verteidigung der Heimat ausgegeben werden.
Jedwede Sprachverwüstung macht es Autoritäten leichter, Gehorsam zu erreichen. Und wo ein einerseits rechtlich eindeutiger Begriff wie Identität gleichzeitig für beliebig festlegbare Inhalte verwendet wird, entsteht eine günstige Basis für Irrationalität.
Bei wichtigen Amtsangelegenheiten, manchmal auf Reisen, bei Zugriffen auf Geld oder auf vertrauliche Informationen wird ein Nachweis der Identität verlangt. Wir können sie durch Dokumente glaubhaft machen, nötigenfalls durch Fingerabdruck beweisen.
Identität ist eindeutig. Sie ist für die Rechtsprechung relevant, von außen erkennbar und invariabel. Daraus ergibt sich eine Unumstößlichkeit, die jedoch ausschließlich in dieser, der Kernbedeutung von Identität vorhanden ist. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ definiert Identität als „Gleichheit, völlige Übereinstimmung, Wesenseinheit“, das Duden-Fremdwörterbuch als „vollkommene Gleichheit od. Übereinstimmung (in Bezug auf Dinge od. Personen), Individuelles, Unverwechselbares“. Eine Spezialverwendung erfährt dieser Begriff im Fachbereich der Psychologie. Hier bedeutet Identität, so der Duden, „die als ,Selbst‘ erlebte innere Einheit der Person“, also eine subjektive und meist instabile Wahrnehmung des eigenen Selbst. Da dies etwas entschieden anderes als der rechtseindeutige Begriff von Identität ist, müsste das Gemeinte einer Klarheit des Diskurses wegen unterscheidbar benannt werden: etwa mit Selbstgefühl oder Selbstwahrnehmung.
Selbstgefühl ist schwankend. Inhalt, Umfang und emotionale Färbung der erlebten inneren Einheit – vorausgesetzt, dass das Innere überhaupt als Einheit erlebt wird – können sich von einer Minute zur anderen ändern. Das Gefühl, erfolgreich und glücklich zu sein, kann sich durch ein Missgeschick in das Gefühl, ein hilfloses Opfer zu sein, verwandeln. Die Identität des betroffenen Menschen ist jedoch vorher und nachher dieselbe.
Das Selbstgefühl eines Menschen erwächst aus vielerlei Komponenten. Es bestimmt sich durch Identifikationen mit Beruf, mit Besitz, mit Wertesystemen oder mit Rollen wie Vater- oder Muttersein. Identifikation ist nicht dasselbe wie Identität und daher zu Recht ein eigener Begriff. Auch Zugehörigkeiten (zu einer Familie, zu einem Land), Abstammung und Traditionen gehören meist zum erlebten Selbst einer Person. Und Prägungen der Persönlichkeit, wie sie durch Kultur, Religion und Sprache entstehen, ebenfalls. Niemand aber ist identisch mit der deutschen (oder sonst einer) Sprache, auch wenn sie als zum Selbst gehörig erlebt wird.
Charaktereigenschaften und sexuelle Orientierung sind ebenfalls ein wesentlicher Teil des Selbsterlebens. Auch sie sind kein Kriterium für einen Identitätsnachweis, auch sie können sich bei gleichbleibender Identität der Person erheblich verändern. Selbst Häftlinge in Gulags oder KZs, die ihre bürgerlichen Rollen und ihr Recht auf Selbstbestimmung weitgehend verloren haben, behalten ihre Identität. Ihr Selbstgefühl hingegen wird in vielerlei Hinsicht gebrochen, verändert oder vernichtet worden sein.
Um effizient und sinnvoll zu sein, braucht ein Diskurs für unterschiedliche Inhalte unterscheidbare Bezeichnungen. Individuell Ausdeutbarem das Etikett „unverbrüchlich gültig“ umzuhängen, wäre so etwas, wie es ein Jolly Joker beim Kartenspiel ist: Wann auch immer ich – als Spieler/Spielerin – diese Joker-Karte zu meinen Gunsten ins Spiel bringe, müssen alle Mitspielenden die von mir festgesetzte Bedeutung der Karte anerkennen. Beim Kartenspiel ist das so. Im Rahmen von Gesetzen eines demokratischen und fairen Gesellschaftssystems wäre ein Jolly-Joker-Begriff untragbar. Was also meint eine international vernetzte Bewegung, wenn sie von Identität spricht und von sich sagt: „Identitär kommt von Identität“?
Grundsätzlich kann selbstverständlich jede Gruppe einem bestimmten Wort eine Spezialbedeutung geben. Wer aber laut Eigenaussage vorhat, wesentlich auf das politische Leben in Österreich einzuwirken, sollte Begriffe in ihrer allgemeingültigen Bedeutung verwenden. Also in so eindeutiger Weise, dass die Inhalte auch gerichtlich einklagbar sind.
Auf ihren Internetseiten definiert die Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) ihren Schlüsselbegriff folgendermaßen: „Unter Identität versteht man das Bewusstsein eines Menschen von sich selbst.“ Dieser Satz enthält gleich zwei Jolly Joker, denn wer bestimmt den Inhalt von Bewusstsein oder was das Selbst ist? Was wird da behauptet? Nicht mehr und nicht weniger, als dass das „Bewusstsein eines Menschen von sich selbst“ ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für Identität wäre.
Das kann nicht sein. Sonst hätte ein schlafender Mensch oder ein Mensch im Koma, der ja kein Bewusstsein von sich selbst haben kann, keine Identität. Auch ein psychisch Kranker, der sich beispielsweise für Napoleon hält und daher von außen betrachtet kein Bewusstsein von sich selbst besitzt, hätte laut dieser Vorgabe keine Identität. Allen nicht heterosexuell lebenden Menschen ließe sich aus identitär definierter Sicht von Männlichkeit und Weiblichkeit das Bewusstsein von sich selbst aberkennen. Sogar ich als begeisterte Österreicherin könnte meine Identität verlieren, da ich mich selbstverständlich zur österreichischen Bevölkerung, aber nicht zum österreichischen Volk, wie es die IBÖ in ihrer phantasmagorischen Definition sehen will, zähle. Letztlich könnten, würden Identitäre ihre Forderungen in Gesetze umwandeln, allen Menschen, die nicht das von der IBÖ als richtig definierte Bewusstsein haben, die staatsbürgerlichen Rechte aberkannt werden. Wie damals zur Nazi-Zeit denjenigen Menschen, die nicht die richtigen – sprich: „arischen“– Vorfahrinnen und Vorfahren hatten. Kurz gesagt, wer der IBÖ-Definition von Identität zustimmt, erteilt unwissentlich oder wissentlich sämtlichen Gräueltaten, die jemals von einem politischen System begangen werden könnten, eine Voraus-Legitimation.
In einem 2016 gegebenen Interview für ein Radio-Feature sagt Felix Menzel, der als einer der Chefideologen der IB Deutschland gilt, er lasse sich für die Vorbereitung und Ausdehnung seiner Themen „zehn, 15 Jahre Zeit, und dann soll die intellektuelle Bombe platzen“. Die Inhaltsvorgabe, Identität wäre das „Bewusstsein eines Menschen von sich selbst“, ist eine sprachliche, taktische und intellektuelle Schläferbombe. Als Gesetzesgrundlage wäre sie ein Freibrief für jedweden Machtmissbrauch. Auch die Wissenschaften müssten sich gegebenenfalls wirklichkeitswidrigen Vorgaben beugen – wie einst Galileo Galilei.
In ihren Ausführungen zum Thema Identität erklärt die IBÖ auf ihren Internetseiten, dass es für sie drei verschiedene Ebenen der Identität gebe. Von diesen wird dann festgestellt: „Für uns stehen alle drei Ebenen unserer Identität auf gleicher Ebene.“ Moment. Entweder gibt es eine Ebene oder drei Ebenen. Aber von drei Ebenen zu sagen, dass sie auf gleicher Ebene stehen, ist blanker Unsinn. Das ist völlig arational, also jenseits verhandelbarer Inhalte. Mit einem Satz dieser Art ist auch nicht mehr die geringste Bezugnahme auf konkrete Wirklichkeit möglich. Ein verbindlicher Zusammenhang von Sprache und Tatsachen ist da suspendiert.
Resümee: Sprache ist wirkmächtig. Begriffe wie Identität als Platzhalter für willkürlich änderbare Inhalte offenzuhalten, würde die Rechtsprechung auf schwankenden, unzuverlässigen Boden stellen. Rechtssicherheit und Demokratie brauchen größtmögliche Klarheit und Verbindlichkeit der Begriffe.
Identität hat jede und jeder von uns. Und sie ist eindeutig. Wenn wir einander von unserem Selbstverständnis und von unseren Gefühlen erzählen, so ist das menschlich wertvoll und für die Möglichkeit zu Empathie und emotionaler Zuwendung wichtig, aber die Inhalte des Gesagten können nicht als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten.
Von einem Neologismus wie „identitär“ unüberprüft zu glauben, es ginge um gesellschaftspolitische Endlösungen, um eine neue Heilslehre oder um praktikable, demokratische Konzepte, wäre grob fahrlässig. Bevor wir trinken, sollten wir wissen, ob Wüstensand oder Wein im Glas ist. Und dazu brauchen unterschiedliche Inhalte unterscheidbare Benennungen. ■